Nordische Magie

Nachlesen – die verborgenen Fäden des Schicksals

Es war einmal ein Segler, der gerade sein Boot fertig machte, um hinaus aufs Meer zu segeln. Der Segler war auf der Suche, er wusste allerdings noch nicht so recht wonach. Er wusste nur, wenn er gefunden hätte, wonach er sucht, dann würde er es schon merken. Also wollte er einfach los segeln und schauen, wohin ihn der Wind treibt.

Da ging am Kai ein Kaufmann vorbei und fragte den Segler: „Wohin geht die Reise?“ Der Segler lächelte und antwortete: „Ich weiß es noch nicht. Mal schauen, wohin der Wind mich trägt.“ Der Kaufmann schaute nachdenklich, so als wollte er etwas sagen. Doch er ging langsam weiter und sagte dann im Vorbeigehen leise vor sich hin: „Für einen Segler, der seinen Zielhafen nicht kennt, ist kein Wind der richtige.“

Der Segler hörte diese Worte. Und er stockte, denn er musste darüber nachdenken, was der Kaufmann da gerade gesagt hatte. Er hielt kurz inne und dachte nach: Hm ja, da steckt schon etwas Wahres drin. Doch ich lasse mich vom Wind tragen, weil ich etwas suche, und ich weiß ja nicht wo. Deshalb will ich einfach nur die Welt kennenlernen und möglichst viel sehen und erfahren. Also stimmt genau das Gegenteil von dem, was der Kaufmann sagte: Jeder Wind ist mir recht!

(c) Karl Vögele

Und dieser Gedanke beruhigte den Segler wieder. Also löste der Segler die Leinen und brachte sein Boot hinaus aufs Meer. Diesmal hatte er Glück: Der Wind pustete und pustete und gab ihm seine Richtung ohne Abweichung vor. Nach einigen Tagen beständigen Segelns sah der Segler in der Ferne plötzlich wieder Land. Und er beschloss, sein Boot direkt darauf zuzusteuern. Als er näher kam, konnte er seinen Augen kaum trauen: Welch ein wunderschöner Ort, an den ihn der Wind diesmal getragen hatte!

Der Segler legte sofort im Hafen an und ging an Land. Er war überwältigt, denn dieser Ort war noch viel schöner, als er zuerst geglaubt hatte. Die Gebäude waren von strahlender Schönheit und gleichzeitig sehr gemütlich und einladend. Die Menschen hier lachten viel und waren auch sehr freundlich zu ihm. Das Wetter war hervorragend. Und das leckere Essen erst. Hier würde es sich gut für einige Zeit aushalten lassen, denn dieser Ort war ein kleines Paradies auf Erden!

Der Segler blieb einige Tage an diesem Ort. So lange, bis er eines Morgens aufwachte und plötzlich innerlich sehr unruhig war. Er hörte wieder diese innere Stimme, die ihm immerzu so viele Fragen stellte: „Willst du etwa hierbleiben? Ist das hier das, wonach du suchst? Dort draußen gibt es noch so viele unentdeckte Orte, könnte es nicht noch einen geben, der noch besser zu dir passt? Wäre es jetzt nicht evtl. mal an der Zeit, deine Suche fortzusetzen?“

Der Segler dachte sehr viel über diese Fragen nach, aber er fand keine rechte Antwort darauf, denn er wusste eben nicht, wonach er sucht. Er konnte diese innere Stimme und ihre Fragen aber auch nicht ignorieren. Und so entschloss er sich, sein Boot am nächsten Tag wieder startklar zu machen. Als er am nächsten Morgen begann, sein Boot mit Vorräten zu beladen, sah er einen alten Mann herunter in den Hafen kommen, direkt auf das Boot zu. Der alte Mann kam langsamen Schrittes zum Boot und setzte sich dort auf einen Stein. Dann fragte er den Segler unvermittelt: „Was machst du da?“

Der Segler packte noch die letzten Vorräte an ihren Bestimmungsort. Dann griff er nach der Leine, um noch den letzten Knoten zu lösen. Er antwortete nebenbei: „Ich steche wieder in See und habe mein Boot dafür vorbereitet.“ Der alte Mann überlegte kurz und fragte dann: „Hat es dir hier nicht gefallen?“ Und der Segler sagte: „Doch! Sehr sogar!“ Der alte Mann war sich kurz unsicher, ob er richtig gehört hatte. Doch dann fragte er: „Warum willst du dann fort?“

Der Segler hielt kurz inne. Dann antwortete er wahrheitsgemäß: „Ich bin auf der Suche. Ich weiß zwar noch nicht genau wonach, doch ich hoffe, dass mir das Leben darauf irgendwann eine Antwort gibt, wenn ich lossegle. Deshalb muss ich weiter.“ Den alten Mann schien diese Antwort irgendwie berührt zu haben, denn auf einmal schaute er sehr nachdenklich zu Boden.

Dann sagte er: „Ich war einst so wie du. Auch auf der Suche. Ich habe endlose Jahre auf dem Meer verbracht und dabei habe ich die ganze Welt gesehen, wirklich die ganze Welt. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, irgendwo dort draußen liegen die Antworten verborgen. Ich war der Sklave meiner unstillbaren Fragen. Sie haben mich mein Leben lang getrieben und mich rastlos gemacht“

Dem Segler kamen unversehens auch seine Fragen wieder in den Kopf, die ihn immer so rastlos werden ließen. Die ihm das Gefühl gaben, irgendwie nicht am richtigen Ort zu sein. Und er fragte sich, ob der alte Mann wohl das gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. Der alte Mann konnte dem Segler diese Frage aus seinem Gesicht ablesen. Dann holte er tief Luft und sagte: „Ich habe mir geschworen, falls ich je einen Segler treffen sollte, der so ist, wie ich einst war, dann werde ich ihm berichten, was ich auf dem Meer gelernt habe.“ Der Segler schaute den alten Mann jetzt gebannt an.

Der alte Mann zögerte kurz, so als würde er seine Worte sehr sorgfältig abwägen. Dann sah er aufs Meer hinaus: „Ich war auf der Suche dort draußen. Und meine Suche glich der Suche nach einem ‚Etwas‘ im Heuhaufen. Ich wusste nicht, ob es die Nadel war, der Knopf oder doch der Faden. So folgte ich segelnd jedem Wind, in der Hoffnung, das Leben würde mir darauf schon eine Antwort geben. Ich glaubte, wenn ich finden würde, wonach ich suchte, dann wüsste ich es schon.“ Unvermittelt schaute der alte Mann den Segler mit ernstem Blick an: „Doch so war es nicht. Die ganze Zeit gab es nichts und niemanden, der mir je hätte eine Antwort darauf geben können. Nicht das Leben, keine plötzliche Eingebung und auch kein alter weiser Mann. Niemand, außer mir selbst.“

Der Segler sah den alten Mann verwirrt an. „Meine Fragen ließen mich einfach nie los, weil ich meine Suche falsch angegangen bin. Und nun bin ich alt.“ Er machte eine Pause. „Bevor du auch nach Antworten dort draußen auf dem Meer suchst, suche erst nach Antworten in dir selbst. Wer bist du? Was möchtest du? Wie soll der Ort sein, an dem du endlich glücklich bist?”. „Wenn du das weißt, dann ist der Heuhaufen zwar immer noch groß, aber du weißt wenigstens, wonach du suchen musst. Das ist der wichtigste Teil deiner Suche! Diese Antworten findest du nur in dir selbst und nicht dort draußen auf dem Meer. Erst wenn du weißt, wer du bist und was du willst, erst dann wirst du auch wissen, wann du auf deiner Suche fündig geworden bist.“ Der Segler schaute weit aufs Meer hinaus. Er schloss seine Augen und atmete einen tiefen Zug salziger Luft ein. Dann griff er nach der Leine und band den Knoten wieder zu.

Textquelle unbekannt,  Bildquelle: © Angelika Schacht
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