Einst lebte in einem Dorf ein alter Mann, der eigentlich sehr arm war. Er widmete sein Leben der Weisheit und hielt sich aus den rührigen Geschäften seiner Mitmenschen heraus. Doch einen Schatz besaß der Mann. Einen schneeweißen Hengst von solch schöner Gestalt, dass selbst der König ihm schon eine hohe Summe für das Tier geboten hatte. Der alte Mann hat jedoch nie verkauft. Dies sollte sein Schicksal und das seines Sohnes tiefgreifend verändern.
An einem Morgen im Frühling war nun der Stall des herrlichen Tieres leer. Der weiße Hengst war verschwunden, eine sofort durchgeführte Suche brachte keinen Erfolg. Das halbe Dorf versammelte sich im Stall des Mannes und spottete: “Du dummer Mann. Warum hast du das Pferd nicht an den König verkauft. Du hättest ein sorgloses Leben führen können. Nun bleibt dir gar nichts. Wenn das kein Pech ist, was dann?”
Der Mann blieb gelassen und entgegnete: “Ihr könntet recht haben oder auch nicht. Wer weiß schon, was hieraus folgt. Bisher kann ich nur sagen, dass mein Pferd nicht mehr im Stall ist. Mehr nicht. Was daraus folgen mag, weiß mein Schicksal allein.” Dann setzte er sich in seinen Schaukelstuhl und ließ seinen Blick in die Ferne gleiten. Die Dorfbewohner lachten mitleidig und gingen kopfschüttelnd zu ihrer Arbeit zurück. Der Narr war doch schon immer verrückt gewesen. Nun zeigte sich, was daraus folgte. Aber siehe da, zwei Wochen später kehrte das weiße Pferd zu dem Manne zurück. Damit nicht genug, der Hengst hatte ein Dutzend Wildpferde im Schlepptau mit auf die Weide des Mannes geführt. Es war eine Pracht, die herumtollende Herde im Gatter zu bestaunen.
Die Neuigkeit vom unerwarteten Glück des Mannes verbreitete sich in Windeseile im Dorf. Die Bewohner eilten zur Wiese und staunten. “Hat der Verrückte doch recht behalten.” “Hat sich der Verlust doch noch als Segen erwiesen.” Sie gratulierten ihm und beglückwünschten ihn zu den kräftigen Tieren. Der alte Mann war nun nach den Maßstäben des Dorfes außergewöhnlich reich. Der Mann blieb gelassen und meinte lediglich: “Mag es Glück sein oder auch nicht. Wir können nur mit Bestimmtheit sagen, dass das Pferd zurückgekommen ist und dass es noch einige Pferde mitgebracht hat. Alles Weitere wird die Zukunft zeigen.” Die Nachbarn schüttelten ob dieses Undankes verständnislos ihre Köpfe und zogen ab.
Der einzige Sohn des Mannes begann unverzüglich, die Wildpferde zuzureiten. Am zweiten Tag wurde er bei der Dressur heftig hinab geschleudert und brach sich ein Bein. Wieder kamen die Anwohner und beklagten das Unglück, doch der alte Mann entgegnete erneut: “Wer weiß, ob es ein Unglück ist oder etwas Gutes. Wir können nur erkennen, dass mein Sohn sich ein Bein gebrochen hat und er nicht mehr reiten kann. Was darüber hinaus geht, wird die Zukunft zeigen.”
Jetzt wunderten sich die Dorfbewohner schon weniger. Einige hoben an, über die Worte des Mannes zu diskutieren. Doch keiner konnte sich vorstellen, wie ein Beinbruch etwas Gutes bewirken sollte. Am nächsten Tag kam ein Ausrufer des Königs ins Dorf geeilt. Das kampffreudige Nachbarland hatte ihnen den Krieg erklärt und der König rief alle einsatzbereiten Männer zu den Waffen. Eine Weigerung würde mit dem Tode bestraft. Dadurch wurden alle jungen Männer im Dorf bis auf den Sohn des Mannes eingezogen.
Das ganze Dorf brach in großes Wehklagen aus. Sie wussten: Nur wenige würden aus diesem Krieg unversehrt in die Heimat zurückkehren. Die Frauen des Dorfes gingen zum Alten und jammerten: “Du hast wieder einmal recht behalten. Alle unsere Männer müssen in den Krieg. Dein Sohn darf dank seines Beinbruches daheim bleiben. So rettet nun der Sturz sein Leben.”
Der alte Mann wippte weiter gelassen im Schaukelstuhl: “Mag sein oder auch nicht. Ihr urteilt in einem fort und irrt euch stets aufs Neue. Wir können nur feststellen, dass mein Sohn zuhause bleibt und eure Männer eingezogen werden. Alles Weitere, ob Glück oder Unglück, wird sich zeigen. Nur ein allwissendes Wesen, das alles überblickt, könnte die Ereignisse richtig einordnen. Wir irren uns allzu oft und bringen damit unseren Geist völlig unnötig aus seiner Gelassenheit. Darum urteile ich nicht.”
Text: Peter Bödeker – Bildquelle: © Fotolia/rangizzz