Fjellstein

Verantwortung statt Entfremdung !

Es gibt ein Bild aus dem Norden, das mir immer wieder hilft, über Beziehungen nachzudenken: der Fjellstein. Oben im Hochland liegt er, nackt, ungeschützt, dem Wetter ausgesetzt. Regen prasselt auf ihn nieder, Stürme gehen über ihn hinweg. Doch der Stein bleibt. Der Regen rinnt an seiner Oberfläche hinab. Er nimmt nichts auf, er hält nichts fest. Er bleibt unbewegt, geerdet, unversehrt.

Viele von uns sind im Alltag aber kein Fjellstein. Wir sind eher Schwämme: Jede Kritik, jeder Vorwurf, jeder Kommentar unseres Partners oder unserer Familie dringt sofort in uns ein, saugt sich fest, schmerzt und belastet. Was dann folgt, kennen wir alle: Rechtfertigung, Gegenangriff, beleidigtes Schweigen. Kurzfristig schützt es uns. Langfristig schafft es Entfremdung.

Verantwortung oder Schuld?

In Beziehungen verwechseln wir Verantwortung oft mit Schuld. Wenn jemand Kritik äußert, hören wir nicht: „Ich brauche etwas von dir.“ Wir hören: „Du bist falsch. Du bist schuld.“

Das macht uns eng. Wir fühlen uns angegriffen und schalten in den Verteidigungsmodus. Doch Verantwortung heißt nicht, Schuld zu übernehmen. Verantwortung heißt, präsent zu sein. Da zu bleiben. Hinzuhören. Wahrzunehmen, ohne sofort Urteile, Rechtfertigungen oder Gegenargumente vorzuschieben.

Entfremdung als Schutzmechanismus

Wenn wir uns nicht trauen, wirklich zuzuhören, greifen wir zu Strategien, die uns schützen sollen: Wir ziehen uns zurück, wechseln das Thema, machen ironische Bemerkungen oder schweigen uns an. Diese Strategien halten uns kurzfristig sicher – doch langfristig bauen sie Mauern. Mauern, die Partner, Kinder und Eltern voneinander trennen. So entsteht Entfremdung: mitten in Beziehungen und Familien, die eigentlich Orte der Nähe sein sollten.

Fjellstein

Das Fjellstein-Ritual

Eine kleine Übung kann helfen, diese Dynamik zu durchbrechen: Stell dir vor, du bist ein Fjellstein im Regen. Die Worte deines Gegenübers – egal ob kritisch, anklagend oder gut gemeint – sind wie Regentropfen. Sie fallen auf dich, bleiben aber nicht an dir haften. Sie perlen ab und fließen ins Tal. Du hörst zu, ohne sofort zu reagieren oder dich zu verteidigen. Vielleicht antwortest du nur mit:

  • „Danke, dass du das sagst.“
  • „Ich höre dich.“

So entsteht Raum – Raum für die Botschaft hinter der Kritik. Raum für Begegnung.

Beziehung als Übungsfeld

Natürlich gelingt es nicht immer, ein Fjellstein zu sein. Aber jedes Mal, wenn wir es versuchen, übernehmen wir Verantwortung – nicht für den Konflikt selbst, sondern für unsere Art, präsent zu bleiben. Und jedes Mal, wenn wir präsent bleiben, verhindern wir ein Stück Entfremdung. Beziehungen sind nicht konfliktfrei. Aber sie können Übungsfelder sein, in denen wir lernen, uns zuzuwenden, statt uns zurückzuziehen.

Schlussgedanke

Die Frage ist also nicht: „Wie verhindere ich, dass andere etwas von mir wollen?“ Sondern: „Wie bleibe ich da, ohne mich im Abwehrkampf zu verlieren? Vielleicht hilft dir das Bild: Willst du weiter Schwamm sein – oder beginnen, ein Fjellstein im Regen zu werden?

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