Auf den Pfaden der Geisterwelt !
Manchmal hört oder liest man Sätze, die sich festsetzen, die ein inneres Stirnrunzeln auslösen. „Aus schamanischer Sicht ist das so – und nicht anders.“
Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich diese Worte hörte. Irgendetwas in mir widersprach. Denn Schamanismus ist kein festes Regelwerk. Schamanismus ist lebendig. Schamanismus ist individuell.
Vielfalt der Wahrnehmung
In den Kulturen dieser Welt trägt Schamanismus viele Gesichter. Die geistige Welt spricht auf ihre eigene, geheimnisvolle Weise mit jeder Schamanin, jedem Schamanen und jedem schamanisch Reisenden. Bilder, Zeichen, Botschaften – sie kommen in unendlicher Vielfalt.
Wenn jemand sagt: „Aus schamanischer Sicht…“, dann übersieht er diese Vielfalt. Es gibt nicht die schamanische Sicht. Es gibt nur die Sicht desjenigen, der sie erlebt. Besser wäre: „Aus meiner schamanischen Sicht…“
Das Menschliche im Begrenzten
Vielleicht ist es genau das, was uns Menschen ausmacht: Wir neigen dazu, die Welt aus unserem eigenen Fenster zu betrachten – und zu glauben, das sei das ganze Haus. Unser Denken, unsere Prägungen, unsere Erfahrungen – all das formt unseren Blick. So schnell verwechseln wir unsere Wahrheit mit der Wahrheit.
Es ist menschlich, nur den eigenen Tellerrand zu sehen, besonders wenn etwas tief in uns Resonanz findet. Wir fühlen uns sicher in unserer Sicht, bestätigt, zugehörig. Doch genau darin liegt die Versuchung, die Empfindungen, Sichtweisen und Erfahrungen anderer zu übersehen.
Manchmal geschieht das unbewusst – aus dem Wunsch heraus, Halt zu finden in einer Welt, die größer ist, als wir begreifen können.
Und manchmal – und das darf ebenfalls ausgesprochen werden – geschieht es bewusst: Es gibt Menschen, die spirituelles Wissen nutzen, um sich selbst zu erhöhen. Die andere in Abhängigkeit führen, um sich als „Erleuchtete“ oder „Gurus“ darzustellen. Sie beanspruchen Deutungshoheit über das Unsichtbare, als ob die Geisterwelt ihnen allein gehöre.
Diese Haltung trennt, statt zu verbinden. Sie widerspricht dem Wesen des Schamanismus – denn der wahre Weg führt nie in Überlegenheit, sondern in Demut.
Bewusste Manipulation erkennen und sich schützen
- Deutungshoheit: Wer behauptet, nur er oder sie wisse, wie die Geisterwelt funktioniert, verschließt die Vielfalt.
- Manipulation: „Wenn du das nicht tust, kommst du nicht weiter“ ist eher Kontrolle als Begleitung.
- Egozentrierung: Wahre spirituelle Kraft zeigt sich im Dienen, nicht im Erheben des Selbst.
- Abhängigkeit: Angst, Schuld oder Druck sind Warnzeichen für manipulative Dynamiken.
Sanfte energetische Absicherung kann helfen:
- Innere Grenzen setzen: Klarheit über den eigenen Raum, innen wie außen.
- Schutzvisualisierungen: Lichtkreise, Symbole oder Helfer der Geisterwelt können unterstützen.
- Reflexion: Prüfen: Fühle ich mich inspiriert oder unter Druck gesetzt?
So können wir uns schützen, ohne in Angst, Ablehnung oder Urteil zu verfallen. Bewusstheit ist die sanfte Kraft, die uns erlaubt, die Vielfalt der Geisterwelt zu erleben, ohne uns kleinmachen zu lassen.
Wege in andere Welten
Während meiner Ausbildung stieß ich auf Sandra Ingermans Buch „Die schamanische Reise“, das auf dem Core-Schamanismus von Michael Harner basiert. Dort wird beschrieben, dass man beim Reisen in die Obere Welt das Sonnensystem hinter sich lassen müsse. Wer noch Sterne oder Planeten sehe, sei noch nicht angekommen. Für mich – ist es keine physische Regel, sondern ein Symbol: ein Hinweis, wann die alltägliche Welt hinter uns liegt und die spirituelle Ebene beginnt.
Doch schon damals fragte ich mich: Wer sagt, dass nur unser Sonnensystem existiert? Wer kann ausschließen, dass andere Sterne, andere Welten, andere Dimensionen ebenfalls Teil der Geisterwelt sind?
Auf den Spuren von Yggdrasil
Mein Weg führte mich weiter, hinaus aus den Grenzen des Core-Schamanismus, hinein in die nordische Mythologie, zu den Neun Welten des Weltenbaums Yggdrasil. Hier entdeckte ich Strukturen, die nicht linear übereinanderliegen, sondern organisch miteinander verwoben sind.
Jede Welt hat ihren eigenen Klang, ihre eigene Aufgabe, ihre eigene Wahrheit. Dieses Bild hat meine Praxis verändert: tiefer geerdet, verwurzelter – und gleichzeitig weiter, freier, offener.
Die Schönheit der individuellen Sicht
Heute kann ich nicht sagen, was „aus schamanischer Sicht“ gilt. Ich kann nur beschreiben, was aus meiner Sicht wahr ist – hier, jetzt, auf meinem Weg, begleitet von den Geistern, die mich führen. Schamanismus lebt in der Vielfalt, in der Freiheit, in der Offenheit, immer wieder Neues zu entdecken. Vielleicht liegt seine wahre Schönheit genau darin: In der unendlichen Möglichkeit, die eigene Wahrheit zu erkennen, ohne die der anderen zu überblenden.
Denn jeder Blick in die Geisterwelt ist ein Spiegel – nicht nur des Göttlichen, sondern auch des zutiefst Menschlichen in uns.
Ein letzter Blick in die Geisterwelt
Und so gehe ich weiter – Schritt für Schritt, mit offenem Herzen, auf den Pfaden der Geisterwelt. Manchmal leise, manchmal klar, manchmal im Schweigen. Ich höre die Stimmen der Welten, spüre die Energie der Bäume, der Sterne, der Ahnen. Und immer wieder erinnere ich mich:
Meine Wahrheit ist meine, die deiner Nachbarin ihre, die deines Lehrers seine. Keiner hält den Schlüssel allein. Keiner kann die Weite der Geistwelt eingrenzen.
Vielleicht liegt die Kunst darin, die eigene Wahrnehmung zu leben, ohne die der anderen zu überblenden. Vielleicht liegt die Schönheit darin, die Vielfalt zu achten und dennoch den eigenen Weg zu gehen. Und vielleicht, nur vielleicht, ist das der wahre Tanz zwischen Mensch und Geisterwelt: ein freies, respektvolles, achtsames Miteinander von Herz zu Herz, von Seele zu Seele, von Welt zu Welt.