1. Rauhnacht

Die Reise der Völva durch die 12 Rauhnächte –

– Die Nacht des Nebels ! –

 – Die erste Rauhnacht schleicht sich nicht heran — sie sinkt. Wie ein Atemzug, der sich in die Welt senkt, lautlos und schwer zugleich. Die Völva öffnet die Tür ihrer kleinen Hütte am Waldrand. Ein dünner, gläserner Mond hängt über der Landschaft, doch sein Licht erreicht kaum den Boden. Dort hebt sich der Nebel, Schicht um Schicht, als würde die Erde selbst träumen und ihren Schlaf in die Nacht hinausströmen.

1.Rauhnacht

Der Schnee knirscht unter den Schritten der Völva, aber die Luft um sie herum ist so weich, als würde sie von unsichtbaren Händen gestützt. Sie zieht ihren Mantel enger um sich, nicht aus Kälte — sondern weil sie spürt, dass diese Nacht etwas von ihr verlangt.

Der Nebel strömt zwischen den Tannen hervor, rollt über das weiße Land wie ein erinnerungsloses Tier. Dann hält er inne, als hätte er sie erkannt.

Langsam löst sich aus ihm eine Gestalt. Eine alte Frau erscheint, gebeugt, und doch von einer feinen, wirbelnden Würde umgeben.

Ihr Körper scheint nicht aus Fleisch zu bestehen, sondern aus feuchten Silberfäden, die sich immer wieder neu verweben. Als sie spricht, ist ihre Stimme zugleich fern wie ein Echo und nah wie der eigene Atem. „Du suchst Klarheit.“ Die Völva neigt den Kopf. Sie braucht keine Worte — ihre Suche steht in ihrem Blick.

„Doch zuerst,“ fährt die Nebelwächterin fort, „musst du das ablegen, was dich noch bindet. Der Nebel ist nicht nur das Verborgene. Er ist auch das, was sich lösen will.“ Mit einer langsamen Bewegung hebt die Nebelwächterin ein Gefäß empor — ein silbriges, rippiges Schälchen, das wirkt, als sei es aus Mondlicht gegossen. Darin wirbelt Nebel wie lebendiger Atem. Die Völva blickt hinein.

Im Gefäß beginnen Schatten zu tanzen. Es sind keine fremden Gestalten — es sind die eigenen: Worte, die sie verschluckte. Versprechen, denen sie sich selbst entfremdete. Alte Wunden, die nur noch aus Gewohnheit schmerzen. Der Nebel zeigt nicht, um zu strafen. Er zeigt, um zu lösen. „Was du ansiehst,“ sagt die Nebelwächterin, „kann sich klären. Was du abweist, wird bleiben.

Die Völva atmet tief ein. Ihre Brust hebt sich, als würde sie selbst ein Stück Nebel einziehen. Dann haucht sie langsam aus — ein warmer Atem, der sich mit dem Nebel im Gefäß vermischt und die Schatten in Bewegung setzt. Die alte Frau nickt langsam. „So beginnt jede Reise. Nicht mit einem Schritt. Mit einem Loslassen.“ Der Nebel im Gefäß löst sich auf. Ein Moment der reinen Stille folgt — ein Riss im Lärm des vergangenen Jahres.

Die Nebelwächterin reicht ihr das Gefäß. „Es ist leer,“ sagt die Völva. „Leer ist nur ein anderes Wort für frei.“ Das Gefäß ist von innen kühl, fast durchsichtig. Wer hineinsieht, erkennt nichts — oder alles, wenn man bereit ist: eine Möglichkeit. „Trage es mit dir,“ spricht die Hüterin. „Nicht um etwas zu sammeln — sondern um dich daran zu erinnern, dass man nicht alles tragen muss.

Der Nebel um sie beginnt sich zu lichten. Die Gestalt der alten Frau wird dünner, durchscheinender, bis sie nur noch ein Schimmern in der Nebelluft ist. „In zwölf Nächten wirst du verstehen, was heute begonnen hat.“ Dann ist sie verschwunden.

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