Vor langer Zeit plagte Häuptling Norbu vom Amdo-Stamm in der tibetanischen Hochebene ein schwieriges Problem. Er spürte das Ende seiner Zeit, die er unter den schneebedeckten Gipfeln des Himalayas verbringen durfte, gekommen und somit wurde es höchste Zeit, einen Nachfolger zu finden. Laut den Gesetzen des Stammes musste das jemand sein, der von der Gargya-Blutsverwandtschaft abstammt. Somit kamen nur seine drei Söhne infrage. Doch welchen sollte er als künftiges Oberhaupt des Stammes einsetzen? Er stellte ihnen eine unmögliche Aufgabe.
Zunächst wendete er sich an Dorje Phagmo vom nahegelegenen Dirapuk-Kloster. Dieser gab ihm den Rat, bei einer Wanderung um den Manasarovar-See um eine Eingebung zu bitten. Er soll nach einem toten, getrockneten Fisch Ausschau halten. So er hierbei solch ein Exemplar fände, möge er dieses in der Nacht unter seine Schlafstatt legen. Schon nach wenigen Stunden Wanderung fand Norbu ein entsprechendes Exemplar. In der darauffolgenden Nacht träumte er davon, den Berg Kailash zu besteigen, was noch niemanden zuvor gelungen war.
Norbu deutete diesen Traum so, dass der Berg seine drei Söhne prüfen soll. Er rief diese zu sich und sagte: “Niemand hat bisher den Berg Kailash bezwungen. Gehet hin und versucht euch daran. Wem es gelingt, der möge der künftige Häuptling sein.“ Den Söhnen war die Unmöglichkeit der Aufgabe bewusst. Dennoch äußerten sie keinen Zweifel, sondern verbeugten sich und bereiteten sich jeder auf seine Art für den kommenden Tag vor.
Am nächsten Morgen verabschiedeten Norbu und der ganze Stamm die drei Häuptlingskinder. Manche der Frauen trugen Tränen in den Augen, da sie ein Unglück beim Aufstieg befürchteten. Schon bald trennten sich die Wege der drei Söhne, ein jeder versuchte auf seine Art, den Berg zu bezwingen. Häuptling Norbu harrte in seinem Zelt und betete für eine gesunde Rückkehr der Kinder. Kurz nach Mittag kam der älteste seiner Söhne zu ihm. Er gestand, dass sein gewählter Weg schon früh nicht mehr zu begehen war. Nachdem er dreimal fast in eine Spalte gerutscht war, hatte er die Unmöglichkeit eingesehen und war zurückgekehrt. Sein Vater nahm ihn in den Arm und bat, gemeinsam für die sichere Rückkehr der übrigen Söhne zu beten.
Am späten Nachmittag kehrte der mittlere Sohn zurück. Auch ihm war der Aufstieg nicht vergönnt gewesen. Seine Bemühung erkannte man an den Wunden und Schrammen auf seinen Händen und im Gesicht. “Es ist unmöglich, Vater, den Berg zu bezwingen. Niemand hat es je geschafft und wird es auch niemals schaffen.” Norbu drückte auch ihn und ließ sich wieder auf das Fell nieder, nun nur noch für einen Sohn betend. Es war schon dunkel als Intor, der jüngste der Söhne, zum Zelt seines Vaters hereinkam. Zutiefst erleichtert ob der gesunden Rückkehr aller Söhne schaute der Häuptling in Intors Gesicht. Doch dieser schüttelte ebenfalls nur den Kopf. Norbu konnte die Enttäuschung in seiner Stimme nicht unterdrücken. Mit gesengtem Kopf beklagte er: “Wie ich sehe, ist es auch dir nicht gelungen, der Aufgabe meines Traumes gerecht zu werden.“
“Für den Moment, nein”, entgegnete Intor. Hoffnungsvoll schaute Norbu auf: “Für den Moment? Hast du eine Möglichkeit gefunden, wie es vielleicht morgen klappen könnte?“ “Nein, ich konnte noch nicht einmal den Gipfel sehen”, sagte Intor. “Doch hat der Berg seine volle Höhe bereits erreicht. Ich aber wachse noch.”
Text: Nacherzählt nach einer alten Indianer-Geschichte von Peter Bödeker, Bildquelle: © Fotolia/Александр Веревкин