Nordische Magie

Nachlesen – die verborgenen Fäden des Schicksals

Dies ist eine Legende der Brule Sioux, erzählt 1974 von Leonard Crow Dog auf der Rosebud Reservation. 

Vor unserer jetzigen Welt existierte schon einmal eine Welt, aber ihre Menschen wußten sich nicht zu benehmen. Der Schöpfer war mit seinem Werk alles andere als zufrieden und sagte sich: Ich werde eine neue Welt machen. Ich werde drei Lieder singen. Lieder, die einen starken Regen bringen. Dann werde ich ein viertes Lied singen und viermal auf die Erde stampfen. Die Erde wird sich weit öffnen und aus den Spalten wird Wasser strömen und das ganze Land bedecken.  Als er das erste Lied sang, begann es zu regnen. Als er das zweite Lied sang, begann es zu gießen. Als er das dritte Lied sang, traten die vom Regen angeschwollenen Flüsse über die Ufer. Und als er das vierte Lied sang und auf die Erde stampfte, spaltete sie sich an vielen Stellen wie ein zerschmetterter Kürbis und das Wasser sprudelte aus den Rissen, bis es alles bedeckte. 

Der Schöpfer saß auf einem riesigen Sack, in dem er seine heilige Pfeife aufbewahrte und ließ sich von den Fluten und dem Wind treiben. Hierhin und dorthin, für eine lange Zeit. Schließlich hörte es auf zu regnen, und alle Menschen und Tiere waren ertrunken. Nur Kangi, die Krähe, hatte überlebt. Aber es gab keinen Ort, an dem sie sich ausruhen konnte und sie war sehr müde. Sie kreiste über dem Schöpfer und rief. Tunkashila, Großvater, ich muß mich endlich ausruhen! Der Schöpfer dachte: Es ist wohl an der Zeit, das Pfeifenbündel auszupacken. Der Sack enthielt alle möglichen Tierarten und er wählte vier von ihnen aus. Vier Tiere, die bekannt waren für ihre Fähigkeit, eine lange Zeit unter Wasser bleiben zu können. Er sang ein Lied und nahm als erstes einen Haubentaucher aus dem Sack. Er befahl ihm zu tauchen und einen Klumpen Schlamm nach oben zu bringen. Der Haubentaucher tauchte, aber kam ohne Schlamm zurück. Ich tauchte und tauchte, aber konnte den Grund nicht erreichen, sagte der Haubentaucher. Beinahe wäre ich gestorben. Das Wasser ist zu tief!

Der Schöpfer sang ein zweites Lied und nahm den Otter aus dem Sack. Er befahl ihm zu tauchen und etwas Schlamm nach oben zu bringen. Der schlanke Otter sprang sofort ins Wasser und nutzte seine starken Füße, um weit, weit, weit nach unten zu tauchen. Für lange Zeit war er verschwunden, aber als er schließlich wieder an die Oberfläche kam, brachte er nichts mit. Der Schöpfer nahm den Biber aus dem Pfeifensack und sang ein drittes Lied. Er befahl ihm, tief hinunter zu tauchen und etwas Schlamm zu holen. Der Biber warf sich ins Wasser und mit seinem langen, flachen Schwanz trieb er sich weit hinunter. Er blieb länger unter Wasser als all die anderen zuvor, aber als er schließlich nach oben kam, brachte auch er nichts mit. So sang der Schöpfer ein viertes Lied und nahm die Schildkröte aus dem Sack. 

Schildkröte

Die Schildkröte ist sehr stark. Bei meinem Volk steht sie für ein langes Leben, für Ausdauer und Überlebenswillen. Das Herz einer Schildkröte ist eine starke Medizin, denn es schlägt noch lange, nachdem sie gestorben ist. Du mußt mir den Schlamm bringen, sagte der Schöpfer zur Schildkröte. 

Sie tauchte ins Wasser und blieb dort so lange, dass die anderen drei Tiere riefen: Die Schildkröte ist tot! Sie wird niemals wieder nach oben kommen! Unendlich lang erschien die Zeit, doch plötzlich durchbrach die Schildkröte die Wasseroberfläche und paddelte zum Schöpfer. Ich habe es zum Grund geschafft, rief die Schildkröte. Ich habe etwas Erde mitgebracht! Und tatsächlich – zwischen ihren Klauen und selbst in den Rissen ihres Panzers war Schlamm. Der Schöpfer klaubte die Erde von der Schildkröte und begann zu singen. Und während er sang, formte er mit seinen Händen den Schlamm und legte ihn auf das Wasser, um für sich selbst einen trockenen Flecken zu schaffen. Nachdem er sein viertes Lied gesungen hatte, gab es genügend Land für den Schöpfer und auch für die Krähe. Komm und ruhe dich aus, sagte er zu dem Vogel, und die Krähe war mehr als froh darüber. 

Dann entnahm der Schöpfer dem Sack zwei lange Adlerfedern. Er schwenkte sie über seinem kleinen Stückchen Land und befahl der Erde, sich auszubreiten, bis sie alles bedecke. Und bald war überall da Land, wo vorher noch Wasser gewesen war. Wasser ohne Land ist nicht gut, dachte der Schöpfer, aber Land ohne Wasser ist es auch nicht. Die Erde und all die Kreaturen, die auf ihr leben würden, taten ihm leid, und er weinte dicke Tränen. Sie wurden zu Ozeanen, Flüssen und Seen. Das ist besser, dachte er. 

Aus seinem Pfeifensack nahm der Schöpfer dann Tiere und Vögel und Pflanzen und verteilte sie überall auf dem Land. Er stampfte auf die Erde und sie alle wurden lebendig. Als nächstes formte er aus Erde die Gestalten von Männern und Frauen. Er nahm rote Erde und weiße Erde, schwarze Erde und gelbe Erde und er machte so viele Menschen, wie ihm für den Anfang notwendig erschienen. Er stampfte auf den Boden und die Gestalten wurden lebendig. Jede nahm die Farbe der Erde an, aus der sie gemacht worden war. 

Der Schöpfer gab den Menschen Verstand und Sprache und sagte ihnen, zu welchen Stämmen sie gehörten. Und er sprach zu ihnen: Die erste Welt, die ich machte, war schlecht. Die Kreaturen waren schlecht. Also verbrannte ich sie. Die zweite Welt, die ich machte, war auch schlecht. Also ertränkte ich sie. Das ist die dritte Welt. Seht – ich habe einen Regenbogen für euch erschaffen. Als Zeichen dafür, dass es keine weitere große Flut geben wird. Wann immer ihr einen Regenbogen seht, werdet ihr wissen, dass es aufgehört hat zu regnen. Dann fuhr der Schöpfer mit seiner Rede fort: Nun, wenn ihr gelernt habt, wie man sich als als Mensch benimmt und wie ihr in Frieden miteinander und all den anderen Lebewesen existieren könnt – den zweibeinigen, den vierbeinigen, den vielbeinigen, den Fliegenden, jenen ohne Beine, den Pflanzen – dann wird es euch allen gut gehen. Aber wenn ihr diese Welt schlecht und böse macht, dann werde ich auch diese zerstören. Es liegt ganz allein an euch! 

Der Schöpfer gab den Menschen die Pfeife. Lebt nach ihren Gesetzen, sagte er. Und er nannte dieses Land den Schildkrötenkontinent, denn es lag an jener Stelle, an der die Schildkröte getaucht war und den Schlamm mit nach oben gebracht hatte, aus dem später die Welt geschaffen wurde. Es könnte sein, dass es eines Tages eine vierte Welt geben wird, dachte der Schöpfer. Und dann ruhte er sich aus. Der Schildkrötenkontinent ist Nordamerika, das von vielen Stämmen als eine Insel gesehen wird, die auf dem Rücken einer Schildkröte sitzt.

© Bildquelle: Fotolia/dzmitrock87
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